Intermezzo: Der Psychosimplismus der psychoanalytischen Interpretation.
Freuds Essay über Leonard Da Vinci hat die Tür weit geöffnet für eine Flut psychoanalytisch gereifter Reflexionen über Kunst und Künstler.
Freud versucht, durch die Artefakte des Künstlers, seine Werke, in die Seele des Schöpfers einzudringen. Dort angekommen, dreht sich der Psychoanalytiker um und erschafft aus seinen eigenen theoretischen Überlegungen das psychologische Make-up des Macher-Künstlers. Also: durch das Äußere, das Artefakt im Inneren, der Künstler. Eine Leinwand des Verständnisses und der Erklärung wird über die vermeintlich traumatischen, problematischen, spannungserzeugenden Ereignisse aus der persönlichen Vergangenheit gespannt. Von dort aus führt jede Interpretationsfantasie des Psychoanalytikers zu den Erklärungen für die Erschaffung desselben Artefakts. Ein Zirkelschluss: von außen nach innen, von damals bis heute, vom unbewussten Antrieb zur Schaffung eines Artefakts (Buch, Malerei, Musik, Bild,…). Auf den ersten Blick scheint dieser Gedankengang durch eine intellektuell abrollende Landschaft zu reisen, während er in Wirklichkeit auf einem geschlossenen Kreislauf im Kreis kreist und immer dort landet, wo er aufgebrochen ist, ohne den Fahrgast zu informieren. Es scheint tiefgründig zu sein, führt aber nirgendwo hin.
Freud hat auch die Angewohnheit, verallgemeinernde Schlussfolgerungen aus einem privaten Fall zu ziehen. Einfach ausgedrückt: Nachdem er einmal einen ödipalen Konflikt in einer Person definiert hatte, wurde dieses Konzept zu einem allgemeinen Gesetz vergrößert, das für alle Menschen gilt.
Von seiner „Wissenschaft“ ist heute nur noch der historische Wert übrig geblieben.
In den Tonnen von psychoanalytischen Artikeln und Büchern, die oft auf diesen einfachen (vereinfachenden?) Mechanismus zurückgreifen, musste auch Marcel Proust in diese reduktionistische Form gepresst werden: Asthma als Neurose, zu starke Mutterbindung, Rivalität von und mit dem jüngeren Bruder, eine kalte und distanzierte Beziehung zum Vater, die um die Liebe der Mutter konkurriert, Homosexualität als Perversion. Um es ganz offen zu sagen: Die Brillanz von Prousts Werk ergibt sich direkt aus der Kompensation und unbewussten Verarbeitung seines ödipalen Konflikts.
Der enorme Aufstieg der Psychoanalyse hat viele Publikationen hervorgebracht, in denen die Schlüsselszenen wie die Petit Madeleine und der verweigerte Gute-Nacht-Kuss mit einem unbewussten Phantasma verknüpft werden, alles aus Marcels Leben und Werk sexuell aufgeladen wird, die hineininterpretierten dann ihren eigenen Weg gehen, als wären sie die einzig wahre Wahrheit. Einer der frühesten Biographen Prousts, George D. Painter (1959 und 1965), schrieb einen wahren Bestseller mit zwei kuriosen Merkmalen. Zunächst stützte er sich ausschließlich auf schriftliche Quellen, während er reichlich Gelegenheit hatte, die vielen damals noch lebenden Zeugen Prousts zu befragen. Zweitens demontiert er ständig Prousts Verhalten, um zu Erklärungen zu gelangen, die, wir zitieren Jean-Yves Tadié (die Weltautorität und „Professor Proust par excellence“), auf einer Zwei-Cent-Psychoanalyse, einem Freudismus des Marktes, einem herabgesetzten Szientismus1 und „une psychanalyse de bazar2“ beruhen.
Dilettantische Psychologen schreiben Marcel alle Arten von Diagnosen zu, ob modisch oder nicht: Klinophilie, Kakographie, Graphomanie, Hochsensibilität, psychosomatische Hypochondrie, Voyeurismus, Borderline-Persönlichkeitsstörung und dergleichen.
Oh…
Schreibe einen Kommentar