Der medizinhistorische Kontext: Asthma und Neurasthenie
Im Laufe seiner Karriere hat Professor Adrien Proust siebzehn Handbücher mit praktischen Richtlinien zu einer Vielzahl von medizinischen Themen herausgegeben.
1896 erschien das Buch „L’hygiène des asthmatiques“ von Dr. Edouard Brissaud, für das Adrien Proust das Vorwort schrieb. Professor Brissaud schreibt unmissverständlich, dass Asthma die Folge einer Neurose ist, dass es keine Heilung oder Therapie dafür gibt, dass man aber – zum Glück – selten daran stirbt. Um die Zeit der Veröffentlichung dieses Buches ging Marcel zu einer Beratung nach Brissaud7, zweifellos auf der Grundlage der Empfehlung seines Vaters. Aus der Korrespondenz geht hervor, dass Marcel dieses Buch nicht nur gründlich, sondern sogar mehrmals studiert hat. Heute wissen wir, dass es eine Sammlung von Fehlern in diesem Buch gibt, aber die vereinte Autorität von Brissaud und Vater Proust hat dieses Buch auf den neuesten Stand der Technik in Sachen Asthma erhoben, insbesondere in den Augen von Marcel, der das Fachwissen seines Vaters sehr schätzte. Diese Lektüre ist nicht sehr hilfreich, hoffnungsvoll oder erhebend, im Gegenteil. Wo ein Arzt neben seiner medizinisch-technischen Expertise ein Placebo sein sollte, ist dieses Buch eher ein Nocebo. Marcel schreibt: „Et maintenant je viens de lire dans Brissaud que chaque crise qu’on se redonne ainsi détraque je ne sais quoi dans l’organisme et hâte le moment final8„.
Wir unterstreichen „qu’on se redonne“, also was man sich selbst antut. Marcel hat dieses Buch wiederholt gelesen und die erschreckende Beschreibung des Verfallsprozesses hinterlässt einen tiefen Eindruck. Schleichen Sie mit:
„Wenn Asthmaanfälle nacheinander, ohne Remission, ohne Ruhe, tage-, wochen-, monatelang wiederholt werden, ist die nervöse Widerstandskraft erschöpft; Die Anstrengung ist zu groß, vor allem zu langwierig, als dass die im Voraus gemessene Energie des Patienten ausreichen könnte. […] Asthma scheint in Wahrheit auch einige wenige Opfer auszuwählen, um sie für die Unverwundbarkeit anderer bezahlen zu lassen. Die Neurose hört dann auf, schützend zu sein. Es schneidet so tief in den Organismus ein, es verdoppelt seine Schläge so unbarmherzig, dass die Robustesten ihm erliegen; wenigstens werden sie, wenn sie nicht sterben, zu einer Art physiologischem Elend herabgesetzt, so daß nur materielle und zerstörerische Läsionen der anatomischen Elemente ein ähnliches hervorbringen können. […] Es sind die Asthmatiker dieser glücklicherweise seltenen Art, die vor allem von Kachexie bedroht werden. Sie setzt sich nach und nach fest, ergreift sie langsam, magert sie aus, schwächt sie, beraubt sie aller moralischen Triebkraft; sie geben sich auf, hören auf zu essen, schlafen nicht mehr; Die Anasarka infiltriert sie, ihr Myokard dehnt sich aus, die Lungenbasen verstopfen, die Extremitäten werden zyanosehaltig, kühl und sie sterben.9
Kurz gesagt, wenn Sie zu den Unglücklichen gehören, die sich mit Asthma infizieren, dann kann Sie nichts schützen und Sie sind zu einem langen und langsamen Prozess des Verfalls verdammt, in dem Ihr Körper und Geist allmählich sterben, bis der Tod Sie erlöst.
Darüber hinaus schreibt Dr. Brissaud in demselben Buch:
„Der Patient weiß in vielerlei Hinsicht, was gut für ihn und was schlecht für ihn ist. Er hat eine Erfahrung, die mindestens so gut ist wie die unsere, und wir tun gut daran, uns zu beugen.«
Für den aufmerksamen Leser, der Proust sicherlich war, liest sich das wie: Tu, was du für das Beste hältst, oder schärfer: mach deinen Plan. Und das wird Marcel tun. Er konsultiert jeden, hört aber auf niemanden außer sich selbst.
Bis 1905 konsultierte er regelmäßig Dr. Brissaud, aber seine Korrespondenz zeigt, dass er nicht sehr viel von dem gelehrten Professor hielt: „Je suis allé ce jour là voire notre cher ‚Médecin malgré lui‘ celui qu’il faut presque battre pour le faire parler médecine, Brissaud, plus beau et plus charmant que jamais10.“
1897 veröffentlichten Professor Proust und sein Kollege Dr. Gilbert Ballet in derselben Reihe das Buch „L’Hygiène du neurasthénique“. Sie definieren Neurasthenie als „un affaiblissement durable de la force nervuse, donc une névrose, c’est-à-dire une maladie du système nerveux sans lésion organique connue“. Die Krankheit betrifft hauptsächlich Männer aus der Oberschicht, die sich einem geschäftigen Leben hingeben, in dem sie ihre Zeit mit allen möglichen „unhygienischen“ Aktivitäten wie Ausgehen, Theaterbesuchen, aufwendigen Abendessen, Flattern von einer Soirée zur nächsten usw. vollstopfen. Sie nehmen sich nicht die Zeit, sich von all dem Trubel zu Hause zu erholen. Kurz gesagt, die Betroffenen sind Menschen, die es sich leisten können, nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten zu müssen und sich nur mit zerebralen Tätigkeiten zu beschäftigen. Neurasthenie ist unter Arbeitern selten, schreiben die gelehrten Ärzte. In der detaillierten Beschreibung aller Arten von Symptomen, Beschwerden und ihren auslösenden Faktoren scheint es, als würde Vater Proust eine Fallstudie seines Sohnes beschreiben, so William C. Carter11.
So heißt es in den Büchern von Brissaud und Proust-Ballett, dass Asthma ein rein psychologisches Problem ist, das auf Neurasthenie (Willensschwäche) zurückzuführen ist, dass organisch nichts vor sich geht und dass folglich die Prognose schlecht ist.
Ist das traurige Ergebnis von all dem, dass Marcel irgendwann sein Vertrauen in alle Ärzte verliert, sich selbst behandelt und nie zu einer Behandlung kommt, die ihm (ein bisschen) geholfen hätte?
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